Verschaffe dir mit der Leseprobe von Höllenflügel – Chroniken des Himmels 1 einen Überblick, was dich in diesem Buch erwartet. Es handelt sich dabei um das erste Kapitel, also knapp 20 Buchseiten.
Kapitel 1
»Bald wirst du erwachsen sein.« Die Worte meiner Mutter dominierten immer noch mein Denken, obwohl sie inzwischen schon zu einem anderen Thema übergegangen war.
Erwachsen. Dieses Wort kam mir extrem unwirklich vor. Noch fühlte ich mich kein bisschen, als würde es zu mir passen. Vielleicht, weil ich die Schule erst in ein paar Monaten beenden würde. Selbst mein achtzehnter Geburtstag vor ein paar Wochen hatte an dieser Einschätzung nichts geändert. Trotzdem war ich nur wenige Stunden davon entfernt, erwachsen zu sein. Jeder würde mich dann als ein vollwertiges Mitglied der Elfengemeinschaft ansehen.
War ich dafür überhaupt bereit? Nein, wenn ich ehrlich war, nicht mal im Ansatz.
Eigenständig und frei. Das hatten meine Lehrer gesagt, wenn sie von der Beflügelung erzählt hatten. Durch die Schwingen waren wir nicht mehr von anderen Elfen abhängig. Wir konnten uns aus eigener Kraft von einem Ort zum anderen bewegen. Egal, wie weit die Entfernung war. Deswegen waren wir ab diesem Moment selbst für unsere Taten verantwortlich. Mussten Entscheidungen treffen, die man uns zuvor abgenommen hatte.
Wenn die heutige Veranstaltung Freiheit bedeutete, wieso wollte ich dann am liebsten aus dem Empfangssaal stürmen? Freiheit war doch etwas Gutes und bis gestern hatte ich mich auch auf die Zeremonie gefreut. Aber jetzt hatte sich mein Magen in einen dicken, fetten Klumpen verwandelt, der von unten meine Lunge zusammendrückte.
Nicht weit von mir entfernt stand die Bühne, auf die ich in Kürze gerufen werden würde. Ich hasste es, im Mittelpunkt zu stehen. Obwohl in diesem Raum viele weitere Elfen in meinem Alter darauf warteten, ihre Flügel zu erhalten, wäre ich allein im Zentrum der Aufmerksamkeit. Alle Augen auf mich gerichtet. Ein Schauder lief mir bei dem Gedanken über den Rücken.
Schnell schüttelte ich den Kopf. Ich sollte aufhören, die Bühne wie einen Hinrichtungsort anzustarren. Stattdessen wandte ich mich meiner Familie zu, in deren breitem Grinsen deutlich Vorfreude zu erkennen war.
Meine große Schwester Camille griff nach meiner Hand und drückte sie. Ihre fühlte sich im Gegensatz zu meiner angenehm warm an und diese Wärme übertrug sich für den Moment auch auf mich.
»Du wirst sehen, dein Auftritt auf der Bühne ist schneller vorbei, als du dir jetzt vorstellst.«
»Hoffentlich«, murmelte ich und versuchte, mein Lächeln etwas ehrlicher wirken zu lassen. Es funktionierte nur semioptimal, wie ich dank der großen Spiegel an den Wänden erkannte.
Nicht zum ersten Mal probierte Cammi mich aufzumuntern. Bei mir war es auch schnell vorbei. Niemand wird sich später daran erinnern, was du gemacht hast. Inzwischen konnte ich das schon nicht mehr hören, weil ich wusste, dass sie recht hatte. Aber das Wissen änderte nichts an meinen Gefühlen. Zwischen Kopf und Herz bestand in Bezug darauf keine Verbindung.
Hilfesuchend sah ich, wie schon so häufig seit unserer Ankunft, zur Eingangstür, aber meine beste Freundin konnte ich immer noch nicht entdecken.
Verdammt, Azalea, wo bleibst du?
Sie würde meine Nervosität wenigstens ansatzweise verstehen. Schließlich teilte sie mein Schicksal. Es war zwar nicht das erste Mal, dass ich wegen ihrer Unpünktlichkeit auf sie warten musste, aber bei solch einer wichtigen Veranstaltung hatte ich fest damit gerechnet, dass sie und ihre Familie rechtzeitig kamen. Das hier war kein Unterricht, bei dem sie die Verspätung mit einem charmanten Lächeln aus der Welt schaffen konnte.
»Ich schaue mal draußen, wo Lea bleibt«, verkündete ich und wandte mich in Richtung Tür. Im Eingangsbereich wäre ich zumindest nicht mehr direkt mit der Bühne konfrontiert. Vielleicht zeigte das Wirkung.
Meine Mutter öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, doch meine Schwester schüttelte den Kopf. Cammi kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich jetzt vor allem Ruhe brauchte, um mich zu entspannen.
»Geh nicht zu weit weg, Jasmin. Nicht, dass du deine Beflügelung verpasst!«, rief Maman mir stattdessen hinterher.
Kurz nickte ich, ehe ich meine Schritte beschleunigte. Zielsicher schob ich mich durch die wartenden Elfen im Saal und ließ noch mal den Blick durch den Raum gleiten, ob ich Lea nicht doch entdeckte. Allerdings konnte ich weder sie noch ihre Eltern zwischen den Anwesenden ausfindig machen. Im Gegensatz zu den Vorstellungen der Menschen waren unsere Flügel leider nicht transparent wie die von Insekten, sondern ähnelten mit ihren Federn denen von Engeln. Da gab es für mich keine Möglichkeit, weit zu schauen.
In dem Gang vor dem Saal begrüßte mich eine Stille, die mir sofort half, mich zu entspannen. Tief sog ich die Luft ein und schickte mich in Gedanken zu unserem letzten Urlaub in den Waldgebieten von Fiore. Die Erinnerung an das sanfte Rauschen der Bäume und den Duft der klaren Luft sorgte dafür, dass ich ruhiger atmete und sich der Druck auf meiner Brust zum größten Teil auflöste.
»Zu viele Elfen auf einem Platz?« Eine männliche Stimme zerstörte jäh die traumhaften Bilder in meinem Kopf.
Erschrocken fuhr ich herum und presste mir die Hand auf die Brust. Mir gegenüber stand ein junger Mann mit blonden Haaren, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Er konnte höchstens Anfang zwanzig sein, wobei sein edler dunkler Anzug ihn deutlich erwachsener als meine Mitschüler wirken ließ. Außerdem hatte er bläuliche Flügel, was bedeutete, dass er dieses Tamtam im Gegensatz zu mir schon hinter sich hatte. Was wahrscheinlich auch sein freundliches und vor allem entspanntes Lächeln erklärte, wobei seine Mundwinkel immer wieder zuckten, während ich meinen Blick über seinen Körper wandern ließ.
Endlich konnte ich mich aus dem Starren reißen und hob betont unbeeindruckt die Schultern. »Teilweise. Aber eigentlich warte ich auf meine beste Freundin. Die ist immer noch nicht da«, erklärte ich. Irgendetwas an ihm gab mir das Gefühl, ihm vertrauen zu können. Keine Ahnung, ob es das Lächeln, die sanfte Stimme oder die entspannte Haltung war, aber ich fühlte mich jetzt schon deutlich ruhiger. »Und du? Wieso bist du nicht im Saal?«
Mein Vater hätte mich jetzt wahrscheinlich dafür gerügt, dass ich den jungen Mann nicht mit der Höflichkeitsform ansprach. Schließlich kannte ich ihn nicht. Doch er nahm es ganz gelassen.
»Zu viel Aufmerksamkeit für meine Person ist im Moment nicht die beste Idee«, erklärte er kryptisch. »Da bleibe ich lieber hier und warte, bis die Veranstaltung begonnen hat und keiner mehr auf mich achtet.«
Kurze Stille breitete sich zwischen uns aus, allerdings keine unangenehme. Stattdessen kam sie mir beruhigend vor. Wie eine Decke, die sich wärmend um mich schloss. Erneut atmete ich tief ein, was ihm natürlich nicht entging.
»So nervös?«
»Ich hasse es, im Mittelpunkt zu stehen«, murmelte ich und warf einen Blick auf die große Uhr, die an dem Turm gegenüber hing. Zehn Minuten gab ich Azalea noch. Wenn sie bis dahin nicht hier war, konnte ich nicht mehr warten. Laut der Einladung würde um drei Uhr das Königspaar eintreffen, und die Zeiger kamen diesem Punkt immer näher. »Zum Glück hast du das schon hinter dir.«
»Ach.« Er winkte ab. »So schlimm ist es nicht. Du wirst sehen. Dein Moment im Rampenlicht ist viel schneller vorbei, als du ahnst.«
»Das hat meine Schwester auch schon gesagt.« Bei dem Gedanken daran musste ich lachen. Ein freies Lachen, mit dem ich an diesem Tag nicht mehr gerechnet hatte. Zumindest nicht vor der Veranstaltung. »Vielleicht ist ja doch etwas dran.«
»Vertrau mir. Ich habe darin Erfahrung.«
Verwirrt legte ich den Kopf schief. »Inwiefern? Bereitest du die Tränke vor?«
Lachend schüttelte er den Kopf. »Nein, aber das ist nicht die erste Beflügelung, der ich beiwohne. Bisher waren alle gleich und selbst die, die ihren Moment im Rampenlicht auskosten wollten, hatten keine Chance dazu.«
Ein weiteres Mal betrachtete ich ihn genauer. Dass er einen Anzug anhatte, bedeutete, dass er kein Palastmitarbeiter war. Die trugen schließlich die grüne Uniform. Er musste also ein externes Mitglied sein. Aber wieso war er dann so oft hier? In der Schule hatte man uns nie erzählt, dass Elfen, die nicht zum Palast gehörten, regelmäßig an der Beflügelung teilnahmen.
»Was ist denn deine Funktion? Kannst du mich einfach durchschleusen, ohne dass jemand etwas mitbekommt?«
Wieder dieses warme Lachen, das die Kälte der Nervosität aus meinen Gliedern vertrieb. »Ich könnte schon, aber glaub mir, das willst du nicht. Außerdem wartet doch sicher deine Familie im Publikum und die wollen miterleben, wenn du deine Flügel erhältst.«
Damit hatte er leider recht. »Alle außer meinen Eltern und meine Schwester einschlafen zu lassen, ist auch keine Option, oder?«, hakte ich trotzdem hoffnungsvoll nach.
»Nein.« Ein Schmunzeln zierte sein Gesicht und ich spürte, dass meine Wangen warm wurden.
»Verdammt, ich …«
Weiter kam ich nicht, denn genau in diesem Moment entdeckte ich Azalea und ihre Eltern. Sie eilte auf mich zu, wobei ihre Mutter gleichzeitig versuchte, die Frisur ihrer Tochter vor Wind und heftigen Bewegungen zu schützen.
»Eila sei Dank.« Erleichtert seufzte ich und warf einen kurzen Blick zu dem Bild unserer Göttin an der Wand, als meine beste Freundin mir um den Hals fiel. »Ich dachte schon, du kommst zu spät.«
Azalea öffnete den Mund, um etwas zu antworten, doch die Fanfaren unterbrachen sie. Sofort begann mein Herz schneller zu schlagen und meine Kehle zog sich zusammen. Hilfesuchend drehte ich mich zu meinem Gesprächspartner um, doch die Stelle war leer. Er war einfach verschwunden und ich hatte keine Ahnung, wie er hieß und wer er überhaupt war.
Tief ein- und ausatmen, Jasmin. Zumindest versuchte ich mir das einzureden. Doch Luftholen war nicht mehr so einfach. In meinem Kopf schien eine große Uhr zu ticken, die herunterzählte, wie lang es noch dauerte, bis ich auf die Bühne musste. Mit der Ankündigung des Königspaars waren es nur noch ein bis zwei Stunden. Je nachdem, wie lang die Zeremonie bei den Elfen vor mir dauerte.
Um ehrlich zu sein, konnte ich mir gar nicht erklären, wieso ich solche Panik schob. Es war ein reines Bauchgefühl, das mich seit heute Morgen nicht losließ. Irgendetwas stimmte nicht. Kurzzeitig hatte ich gedacht, dass es daran lag, dass Azalea nicht da war, aber das hatte sich jetzt geändert. Trotzdem war da immer noch das schwarze Loch an der Stelle, an der sich normalerweise mein Magen befand. Seit meinem kurzen Ausflug auf die Theaterbühne in der Grundschule, den ich damals wegen Lampenfieber vorzeitig abgebrochen hatte, hatte ich mich nicht mehr so schlecht gefühlt.
Lea streckte mir die Hand entgegen und lächelte mir aufmunternd zu. Ich bin bei dir, formte sie tonlos mit ihren Lippen und ich zog die Mundwinkel nach oben. Wenigstens darauf konnte ich vertrauen. Gemeinsam mit ihren Eltern eilte ich in den Saal und suchte nach meiner Familie. Schnell hatte ich sie gefunden und zog meine beste Freundin hinter mir her, bis wir neben ihr zum Stehen kamen. Zeitgleich drückten Cammi und Lea meine Hände. Wärme durchflutete mich.
Doch die hielt nicht lang an. Erneut ertönten die Fanfaren und dieses Mal öffneten sich auch die großen, prächtigen Flügeltüren auf der anderen Seite des Saals. Ein Elf mit einem goldenen Stab trat in die Mitte des Durchgangs und klopfte zweimal auf den Boden. »Verneigt Euch vor König Nicolas und Königin Lilie!«
Wie bei den Proben senkte ich den Kopf und machte einen Knicks. Zum Glück hatte ich mich für ein knielanges Kleid entschieden. Aus dem Augenwinkel bekam ich mit, dass einige meiner Mitschülerinnen Probleme hatten, ihre langen Abendkleider bei dieser Bewegung zu sortieren.
Da es uns verboten war, aufzusehen, während das Königspaar an uns vorbeischritt, fühlte es sich wie eine Ewigkeit an. Allerdings war mir das ganz recht. Wieder etwas Zeit, die sich zwischen mich und meinen Moment der Aufmerksamkeit legte.
»Erhebt Euch!«, ertönte die Stimme des Elfen, nachdem die Schritte sich immer weiter entfernt hatten und das Klackern verstummte.
Ich richtete mich auf und strich mein Kleid glatt. Nicht, weil es Falten bekommen hatte. Nein, der leichte Tüllstoff lag immer noch perfekt. Meine Hände und mein Kopf brauchten einfach etwas, um sich zu beschäftigen. Unsere Herrscher betraten derweil die Bühne. Die Kronen des Königspaars leuchteten im Licht der Kandelaber und neben ihnen befand sich ein kleiner Tisch mit vielen Phiolen darauf. Die Flüssigkeit darin sah wie Nektar aus, doch ich wusste, dass es sich nicht darum handelte. Das waren die Tränke, durch deren Magie wir unsere Flügel erhalten würden.
Bevor mir mein Herz noch aus der Brust sprang vor Aufregung, wandte ich den Blick ab und ließ ihn stattdessen suchend über die Menge gleiten. Wo war mein Gesprächspartner? Wartete er immer noch draußen vor der Tür? Das konnte doch nicht sein. Jetzt wäre es viel zu auffällig, wenn sich die Tür zum Eingangsbereich noch mal öffnete.
Die Veranstaltung begann und es achtete keiner mehr auf die Menge. Alle Blicke waren auf die Bühne gerichtet, was es mir erleichterte, die Flügel zu begutachten. Aber es waren zu viele Elfen. Blau war keine ungewöhnliche Farbe und so entdeckte ich nicht nur ein Paar mit bläulichen Federn. Allerdings ähnelte keins davon denen meines Gesprächspartners. So sehr ich es mir wünschte, ich konnte ihn nicht entdecken. Gern hätte ich mich dafür bedankt, dass er mich vorhin abgelenkt hatte. Für die kurze Zeit unserer Unterhaltung hatte ich meine Nervosität tatsächlich in den hintersten Winkel meines Kopfes geschoben. Jetzt kam sie wieder hervor. Der Fluchtinstinkt in mir schrie, dass ich mich umdrehen und verschwinden sollte. Ich wollte nicht neben dem Königspaar im Rampenlicht stehen müssen.
»Gleich ist es so weit«, flüsterte meine Mutter und drückte mich. Auch mein Vater und Cammi zogen mich an sich. Obwohl die Umarmungen beruhigend gedacht waren, hatten sie genau den gegenteiligen Effekt auf mich. Denn das bedeutete, dass ich nach vorn musste, wo sich alle Elfen versammelten. Der nächste Schritt in Richtung Bühne.
»Bei Eila, das war knapp.« Azalea kicherte bei diesen Worten, wobei ihre Wangen leicht gerötet waren. Dann hakte sie sich bei mir unter. »Ein paar Minuten später und wir hätten den Auftritt des Königspaares zerstört.
»Das ist dir hoffentlich eine Lehre, nicht mehr so herumzutrödeln und zu spät zu kommen«, erwiderte ich und kicherte ebenfalls. Allerdings wurde ich schnell wieder ernst. »Was hat denn so lang gedauert?«
Lea zuckte die Schultern, als wäre es gar keine so große Sache, zu spät zu kommen. Sie war es gewohnt, aber das änderte nichts daran, dass es dieses Mal wirklich eng gewesen war. »Maman war nicht mit meiner Frisur zufrieden. Also musste alles noch mal neu gemacht werden.« Missmutig zupfte sie an einer der vielen Locken herum, die ihr Gesicht umrahmten.
Ich verdrehte die Augen. Das war so typisch für ihre Mutter. Bei der Kleidersuche für die Beflügelung war es nicht anders gewesen. Wie gut, dass ich komplett freie Wahl gehabt hatte, was ich anzog und wie ich mich herrichtete. Solang ich keinen Müllsack trug, sei alles gut, hatte Maman behauptet. Aber im Gegensatz zu Leas Familie waren wir kein Teil der obersten Schicht des Elfenreiches. Für mein Aussehen würde sich kein Klatschmagazin interessieren. Wenigstens etwas, worauf ich mich verlassen konnte.
Wir erreichten den vorderen Bereich, in dem sich als einziges Stühle befanden, und ein Wächter brachte uns zu den zugewiesenen Plätzen. Der Rest der Saalgäste musste stehen. Die Sitze waren nach Schulklassen sortiert, was dazu führte, dass wir etwa in der Mitte saßen. Vor unserer Schule waren noch zwei weitere dran, die ein höheres Ansehen im Reich besaßen.
»Hast du sie wenigstens dazu gebracht, die große Party abzublasen?«, flüsterte ich Lea zu, als die erste Elfe auf die Bühne gerufen wurde.
Sie sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und schnaubte leise. »Was denkst du denn? Als würde Maman sich diesen Moment des Präsentierens nehmen lassen. Die ganze Verwandtschaft reist an und es gibt ein Fünf-Gänge-Menü mit ganz vielen extravaganten Gerichten in ultrakleinen Portionen. Kann ich zu dir flüchten, wenn ich nicht satt werde?«
Sicherheitshalber presste ich mir die Hand auf den Mund, um nicht laut aufzulachen. »Du bist im Hause Villeneuve immer willkommen.« Bei uns war zum Glück nur unspektakulär ein Besuch in meinem Lieblingsrestaurant geplant.
»Wer war eigentlich dieser junge Mann, mit dem du gesprochen hast?« Jetzt stand in das Gesicht meiner besten Freundin deutliche Neugier geschrieben. Leuchtende Augen und ein verschmitztes Grinsen, das keine Frage offenließ, in welche Richtung sich ihre Gedanken entwickelten.
Bevor ich antworten konnte, zischte ein Wächter am Hauptgang uns einen warnenden Laut zu. Schnell zogen wir die Köpfe ein, wobei Azalea sich auf die Lippe biss, um nicht zu lachen.
»Also?«, hakte sie trotz der Ermahnung nach und wirkte nicht, als würde sie das Thema einfach fallen lassen.
»Keine Ahnung«, erwiderte ich mit einem enttäuschten Tonfall. Wieder sah ich mich im Raum um. Aber da ich nun saß, war es noch schwieriger, über die Menge zu blicken. Von der Bühne aus wäre es am einfachsten, doch ich war mir sicher, dass ich in dem Moment an vieles denken würde, nur nicht daran.
»Wie …?«
Ein weiteres Zischen unterbrach sie und der durchdringende Blick des Wächters brachte nun auch sie zum Verstummen. Sie zwinkerte mir kurz zu, dann waren wir beide still und richteten unsere Aufmerksamkeit auf die Elfen, die nach und nach auf die Bühne gerufen wurden. Mit jeder Person, die ihre Flügel erhielt, klopfte mein Herz schneller. Mein Moment im Rampenlicht kam immer näher. Ohne bewusst darüber nachzudenken, griff ich nach Leas Hand, als könnte mir das Halt geben.
Viel zu früh kam unsere Klasse dran und damit auch Azalea. Dupont stand einfach deutlich weiter vorn auf der Liste als Villeneuve. Sie lächelte mir aufmunternd zu und drückte noch mal meine Hand, bevor sie aufstand und sich auf den Weg machte.
Hatte ich zuvor zwar zugesehen, aber nicht aufgenommen, was vor meinen Augen passierte, so lag nun meine ganze Aufmerksamkeit auf dem Geschehen auf der Bühne. Meine beste Freundin trug ein selbstsicheres Lächeln zur Schau, während sie die Stufen nach oben stieg. Kein Stolpern, nichts. Selbst der Knicks wirkte bei ihr wie eine perfekt einstudierte Tanzbewegung. Ich verstand nicht, was der König zu Lea sagte, aber ich kannte die Worte. Es waren die gleichen Sätze, die auch ich in Kürze hören würde.
Dann reichte der König ihr ein kleines Fläschchen, das sie, ohne zu zögern, austrank. Ein leichter Schauder rann ihr über den Rücken und sie presste sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hand auf die Brust. Der Schrei war leise, aber ich konnte ihn dennoch hören, bevor sie in die Knie ging.
Doch sie blieb nicht lang mit gesenktem Kopf in der Hocke. Nach meinem nächsten Blinzeln war es vorbei. Azalea richtete sich auf und lächelte in die Menge, die laut klatschte. Hinter ihr breiteten sich traumhaft schöne hellrosa Flügel aus. Perfekt passend zu ihrem Kleid. Ihre Mutter musste sehr stark an die Charaktertests glauben, die wir im Unterricht vor der Beflügelung machten, um eine ungefähre Einschätzung für die Farbe zu bekommen. Zwar war nicht bewiesen, dass der Charakter eine Rolle spielte, aber es gab zu viele Beispiele, bei denen der Test mit dem endgültigen Ergebnis übereingestimmt hatte. In meinem Fall war es blau gewesen, passend zu meiner ruhigen Art, wie meine Lehrerin gemeint hatte.
Meine beste Freundin verbeugte sich erneut vor dem Königspaar und verließ dann die Bühne in Richtung des separaten Bereichs, in dem die Beflügelten platziert wurden. Wegen der unterschiedlichen Sitzmöbel war das nötig, hatte man uns erklärt. Das verstand ich, schließlich hatte mein Stuhl eine vollständige Lehne ohne Aussparungen für die Flügel. Trotzdem hatte ich mich wohler gefühlt, als Lea bei mir war.
Nachdem ich sie noch ein Weilchen beobachtet hatte und beschloss, dass es ihr gut ging, ließ ich meinen Blick erneut durch den Saal wandern. Immer noch auf der Suche nach meinem mysteriösen Gesprächspartner von vorhin. Ich entdeckte auch dieses Mal einige blaue Flügel, aber es waren zu viele, und nur die Spitzen machten es mir unmöglich, zu erkennen, zu wem sie gehörten. Keine Ahnung, ob und welche davon die richtigen waren. Dieser Mann hatte es geschafft, mich zu entspannen, ohne dass er mich kannte und wusste, was dazu nötig war. Das könnte ich jetzt definitiv gut gebrauchen.
Die Zeit, bis ich aufgerufen wurde, verging einerseits wie im Schneckentempo und andererseits viel zu schnell. Die Stühle um mich wurden immer leerer und mit jedem Elfen, der auf die Bühne geholt wurde, wurde der Kloß in meinem Hals größer. Gedanklich zählte ich die ausstehenden Klassenkameraden runter.
Noch zwei.
Noch eine.
Als mein Name schließlich erklang, war meine Kehle staubtrocken und ich warf einen kurzen Blick zu meiner Familie. Sie standen zwar nicht direkt in meinem Sichtfeld, aber trotzdem konnte ich das aufmunternde Nicken von Cammi und Maman sehen.
Erneut holte ich tief Luft, erinnerte mich daran, zu lächeln, und erhob mich von meinem Platz. Mir war bewusst, dass mich jeder ansah. Obwohl ich noch nicht auf der Bühne stand, kam es mir vor, als wäre jeder Blick wie ein kleiner Nadelstich in meinem Nacken. So selbstsicher wie möglich legte ich die wenigen Meter bis zur Treppe zurück. Dort straffte ich die Schultern und hoffte, dass mir niemand meine Nervosität anmerkte. Trotzdem änderte das nichts daran, dass ich leicht wankte, während ich vor dem Königspaar in die Knie ging. Aber wenigstens war ich die Stufen unbeschadet und ohne zu stolpern nach oben gekommen.
»Eure Majestät, ich, Jasmin Villeneuve, erbitte die Fähigkeit zu fliegen«, sprach ich die Worte, die wir in den letzten Wochen eingetrichtert bekommen hatten. Bei jeder Probe im Unterricht hatten wir sie aufsagen müssen. Damit wir jetzt auf keinen Fall einen Fehler machten. »Um Gutes zu tun und dem Elfenreich als vollwertiges Mitglied zu dienen.«
Ich durfte nicht aufsehen, dennoch hörte ich König Nicolas’ Schritte, bis er vor mir zum Stehen kam. »Erhebe dich, Jasmin Villeneuve.«
Zögerlich stand ich auf, hielt jedoch immer noch den Blick gesenkt. Seit ich ein kleines Kind war, hatte man mir eingebläut, dass man ein Mitglied der königlichen Familie erst ansehen durfte, wenn dieses es einem erlaubte. Deswegen starrte ich auf meine Schuhe und die viel größeren des Königs, der nicht weit von mir entfernt stand.
»Die Freiheit, die dir dadurch gegeben wird, darf nicht für schlechte Taten genutzt werden. Bist du dir deiner Verantwortung bewusst?«
»Ja, das bin ich«, antwortete ich. Niemand wollte, dass die Menschen uns entdeckten. Es war schon schwierig genug, das Elfenreich mit dem Zauber unserer Magier vor den Flugzeugen zu verstecken, die sie entwickelt hatten und die nun über unser schwebendes Reich hinwegflogen.
»Mit der Fähigkeit des Fliegens und der damit einhergehenden Entwicklung zur vollwertigen Elfe erwarten dich auch Rechte und Pflichten. Die Kindheit ist vorbei. Bist du dir dessen bewusst?«, fuhr König Nicolas fort.
Damit meinte er, dass wir erwachsen waren und für unsere Taten geradestehen mussten. Es gab keine Sonderbehandlung mehr, weil wir jünger waren. Vor dem Gesetz waren wir ab dem Zeitpunkt der Beflügelung volljährig.
»Ja, das bin ich«, antwortete ich, obwohl ich mich immer noch nicht erwachsen fühlte. Daran hatte sich in den letzten Minuten nichts geändert.
»Jasmin Villeneuve, sieh mich an«, wies unser Herrscher mich an und streckte mir einen kleinen Flakon entgegen. Mein Atem stockte, während ich den Blick hob. Nun war der Moment gekommen.
Die durchsichtige Flüssigkeit schwappte hin und her, als ich mit zittrigen Fingern die Phiole entgegennahm. Ich brauchte zwei Versuche, um den Verschluss zu öffnen, so nass waren meine Hände inzwischen. Ohne zu zögern, setzte ich die Öffnung an meinen Mund, damit meine Nervosität nicht die Oberhand gewann. Sie war schon groß genug.
Der Trank schmeckte säuerlich und es schüttelte mich, während er meine Speiseröhre hinabrann. Kurz danach setzte ein unangenehmes Ziehen in meinen Schultern ein, das sich schnell auf den ganzen Körper ausdehnte. Meine Muskeln spannten sich an und ein dröhnendes Pochen breitete sich in meinem Kopf aus, sodass dunkle Punkte vor meinen Augen flirrten. Am liebsten hätte ich mir die Hände an die Stirn gedrückt, aber ich war wie erstarrt. Dann fuhr ein stechender Schmerz durch meinen Rücken und ich sackte in die Knie. Immer wieder wurde mir schwarz vor Augen. Es fühlte sich an, als würde meine Wirbelsäule entzweigerissen. Wie durch einen entfernten Vorhang hörte ich einen langgezogenen Schrei, der mir durch Mark und Bein ging. Mein Herz raste und mein Atem kam stoßweise. Nur langsam ebbten die Qualen ab und wurden von einem ungewöhnlichen Gewicht am Rücken ersetzt – meinen Flügeln.
Mein Atem ging immer noch schwer und erst nach und nach verschwanden die schwarzen Flecken aus meinem Blickfeld. Bis auf eine Stelle. Ganz am Rand entdeckte ich dunkle Schlieren. Mehrmals blinzelte ich, aber sie lösten sich nicht auf. Stattdessen wurden sie nur noch deutlicher. Es waren Federn, die zu Flügeln gehörten. Meinen Flügeln.
In diesem Moment wurde mir bewusst, wie still es im Saal geworden war. Kein Klatschen wie bei den Elfen vor mir. Es war, als wäre ich ganz allein hier.
Doch die Stille hielt nicht lang an. Ein Raunen ging durch die Menge. Keine Ahnung, was sie sagten. So genau konnte ich nicht hinhören, da mir das Blut in den Ohren dröhnte. Aber wahrscheinlich waren es ähnliche Sätze wie die, die mir durch den Kopf schossen.
Wieso sind meine Flügel schwarz? Sie sollten doch blau sein.
Was hat das zu bedeuten?
Wieso ich?
Ende der Leseprobe von Höllenflügel – Chroniken des Himmels 1
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