Prolog

1452 – Jonathan

Meine Sicht begann zu verschwimmen, als die ersten Tränen über meine Wangen rannen. Den ganzen Tag über hatte ich die Fassung bewahrt, um für Helenas Familie stark zu sein, aber jetzt, allein auf dem Waldweg in der nahenden Dämmerung, konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Wieder und wieder spielten sich in meinem Kopf die letzten Minuten des Lebens meiner Verlobten ab. Das sonst so helle Leuchten in ihren braunen Augen war immer schwächer geworden, der Husten dafür umso stärker – es war schlussendlich sogar Blut dabei gewesen – und diese schwarzen Pestbeulen … Eigentlich wollte ich gar nicht daran denken, aber es fiel mir so schwer, mich nur an die guten Momente mit ihr zu erinnern. Die Krankheit, mit der sie in den letzten Wochen zu kämpfen gehabt hatte, überdeckte jedes strahlende Lachen und jede unserer hitzigen Diskussionen.

Obwohl ich anfangs keine Liebe für sie empfunden hatte, hatte ich mich nach und nach in die zwei Jahre jüngere Helena Hooker verliebt, die mein Vater als eine gute Partie für mich ausgesucht hatte. In einer Woche wäre unsere Hochzeit gewesen und dann wäre aus ihr Mrs. Westlake geworden. Eine einzige Woche. Wieso hatte das Schicksal uns nur solch einen Strich durch die Rechnung gemacht? Wieso hatte Gott etwas gegen die Vermählung? Helena war noch so unschuldig gewesen, sie konnte keinen Fehler begangen haben. Was also hatte ich falsch gemacht, dass sie hatte sterben müssen?

Unser kleiner Hof tauchte am Ende des Weges auf. Schon aus der Ferne konnte ich meine kleine Schwester Sarah entdecken, deren braune Haare in dem aufkommenden Wind hin und her wehten. Seit dem Ausbruch dieser gefährlichen Krankheit, die manche den Schwarzen Tod nannten, hatten meine Eltern und ich es erfolgreich geschafft, zu verhindern, dass weder Sarah noch mein jüngerer Brüder Timothy etwas davon mitbekamen. Für die beiden hatte Helena nur eine ganz normale Grippe erwischt. Deswegen rieb ich mir auch die Tränen aus den Augen, damit meine Schwester nicht misstrauisch wurde. Sie sollte nicht merken, dass der Tod unserer Familie immer näher kam.

»Jonathan!«, rief sie in diesem Moment auch schon und eilte freudestrahlend auf mich zu. Mit einem gespielten Lächeln wirbelte ich den zierlichen Körper meiner zehnjährigen Schwester durch die Luft, ehe ich sie wieder absetzte. »Mutter hat sich schon Sorgen um dich gemacht. Sie meinte, dass vielleicht etwas mit dir geschehen ist.«

Natürlich hatte sich meine Mutter Sorgen um mich gemacht. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte ich Helena seit den ersten Anzeichen der Krankheit nicht mehr sehen dürfen. Ich könnte mich ja auch anstecken, hatte sie gesagt. Da hatte ich ihr sogar zugestimmt, doch Helena war meine Verlobte gewesen. Obwohl wir noch kein Ehegelübde abgelegt hatten, war es mein Wunsch gewesen, ihr beizustehen – in guten wie in schlechten Tagen.

»Ich werde gleich zu ihr gehen, um sie zu beruhigen. Aber, Schwesterchen …« Sarah schien zu wissen, was jetzt kommen würde, denn sie versuchte sich aus meinen Armen zu befreien, wofür ich jedoch zu stark war. »Solltest du nicht langsam schlafen gehen? Die Sonne geht schon unter.«

»Jonathan«, begann sie mit einem Dackelblick zu betteln, doch dieser Blick zog bei mir schon lange nicht mehr. Nur zwei Sekunden später fand sie sich daher auf meiner Schulter wieder, während ich den Weg zum Haus fortsetzte.

Für einen kurzen Moment konnte ich dabei sogar Helenas Tod vergessen, während meine Schwester mit ihren Fäusten auf meinen Rücken trommelte. Das Fachwerkhaus mit der roten Tür und den gleichfarbigen Fensterläden kam immer näher, weswegen das Trommeln auf meinen Rücken auch immer fester wurde.

»Jonathan, lass mich runter! Ich will noch nicht schlafen gehen!«, schrie sie so laut, dass man es über den ganzen Hof hören konnte.

Vor der Haustür kam uns mein Vater entgegen, der zwei Eimer Wasser trug. Ohne Sarah abzusetzen, öffnete ich für uns alle die Tür und schloss sie auch direkt hinter mir wieder, bevor ich die Kleine auf ihre eigenen Beine stellte.

»Junge Dame, du solltest schon längst neben deinem kleinen Bruder im Bett liegen«, wies auch mein Vater seine Tochter zurecht.

»Kann ich nicht noch etwas wach bleiben, so wie Jonathan?«, bettelte Sarah, wobei sie meinen Vater auch mit dem Dackelblick zu überzeugen versuchte. Nur was bei Nachbarn, Helfern und Fremden klappte, konnte keinen der Familie mehr beeindrucken.

Lächelnd zerzauste Vater ihr die hellbraunen Haare. »Dein Bruder ist auch schon acht Jahre älter als du, Sarah. Komm, ich bringe dich schnell nach oben«, stellte er klar, wobei seine Stimme keine Widerworte zuließ, und nahm meine Schwester an der Hand.

Begleitet durch das Geräusch der knarrenden Treppenstufen hob ich die beiden Blecheimer hoch und trug sie in die Küche. Durch das kleine Fenster am Tisch fielen die letzten Sonnenstrahlen, weswegen ich beschloss, die ersten Kerzen anzuzünden. Auf der Feuerstelle köchelte eine Flüssigkeit in einem großen Kochtopf, die ich nach genauerem Betrachten als eingekochte Früchte identifizierte.

»Nicht!«, riss Mutter mich aus meinen Gedanken, ehe ich den Finger in die Flüssigkeit stecken konnte, um zu probieren, worum es sich dabei genau handelte. »Das ist die Medizin für Timothy. Er hustet seit heute Morgen.«

Ich konnte in ihren blauen Augen sehen, dass sie befürchtete, der Schwarze Tod hätte unser jüngstes Familienmitglied erwischt.

Wie schon den ganzen Tag über verdrängte ich meine eigenen Gefühle und zog meine Mutter beruhigend in die Arme. »Es ist wahrscheinlich nur ein ganz ungefährlicher Husten«, versuchte ich ihr und mir gleichermaßen einzureden, wobei die Tränen doch wieder einen Weg in meine Augen fanden. Sollte mir wirklich alles genommen werden, was mir am Herzen lag?

»Jonathan, du hast ihn nicht gesehen. Er …«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme und ihr Gesicht spiegelte den sorgenvollen Blick wider, den ich vor wenigen Minuten schon auf dem Gesicht meiner kleinen Schwester gesehen hatte. Meine beiden Geschwister hatten die blauen Augen und die braunen Haare meiner Mutter geerbt, während ich mit meinen blonden Haaren und den grünen Augen das jüngere Ebenbild meines Vaters darstellte.

»Nein, ich habe ihn noch nicht gesehen, dafür war ich heute Morgen dabei, als Helena dieser Krankheit erlag«, unterbrach ich sie, erstaunlicherweise ohne jegliche Anzeichen eines Zitterns in der Stimme.

Mutter begann, mir zärtlich über den Rücken zu streichen. »Oh, Jonathan, das tut mir leid.« Dann löste sie sich von mir, da die Flüssigkeit überkochte und sie den Topf mit einem Stock von der Feuerstelle schieben musste. »Aber dir geht es noch gut, oder? Kein Husten? Fieber? Irgendwelche Anzeichen der Krankheit?«

Ich schüttelte den Kopf. Natürlich war ich müde und erschöpft, aber ich fühlte mich nicht krank. »Nein«, antwortete ich. »Mir geht es gut. Mach dir um mich keine Sorgen. Aber hoffentlich ist es nicht meine Schuld, dass Timothy jetzt krank ist.«

Keiner erwiderte etwas auf meine Vermutung, weder meine Mutter, die gerade die Flüssigkeit in eine Tasse füllte, noch mein Vater, der in diesem Moment zurück in die Küche kam. Doch wie sich herausstellte, hatte mein Vater nur darauf gewartet, dass Mutter den Trank zu meinem Bruder brachte, damit wir unter uns waren.

Als wir das Öffnen von Timmies Zimmertür vernahmen, legte er mir die Hand auf meine rechte Schulter und gab mir einen Rat. »Das mit Helena tut mir sehr leid für dich, aber erinnere deine Mutter nicht so direkt daran, wie nahe du der Krankheit in den letzten Wochen warst. Sie ist schon von genug Leid geplagt, seit Timothy heute Morgen das erste Mal gehustet hat.«

Nachdenklich fuhr ich mir mit der Hand durch meine unordentlichen Haare. Eine Bewegung, die ich am heutigen Tag schon zum gefühlt hundertsten Mal ausführte. »Vielleicht wäre es besser, wenn ich euch verlassen würde. Wie du schon sagtest, bin ich in den letzten Wochen sehr oft mit der Krankheit in Berührung gekommen und es könnte sein, dass sie schon auf mich übertragen wurde. Ich bin eine Gefahr für euch«, stellte ich fest, während ich von meinem Vater wegtrat und mit dem Rücken zu ihm die nahende Dunkelheit vor dem Fenster betrachtete.

»Junge, wir können froh sein, dass der Schwarze Tod noch nicht auf unsere Familie übergegriffen hat. Du kannst jetzt nicht gehen. In den nächsten Tagen brauche ich deine Hilfe mehr denn je, damit wir diesen Winter überstehen können. Wenn du uns jetzt verlässt, kannst du auch gleich unser Todesurteil unterschreiben.« Die feste Stimme meines Vaters, die er normalerweise nur beim Handel und gegenüber Arbeitern benutzte, ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen. So streng hatte er noch nie mit mir gesprochen. »Jonathan, wir brauchen deine Mithilfe. Du bist wichtig für uns.«

Trotz dieser Worte lag ich in der Nacht noch lange wach, um über meine Entscheidung nachzudenken. Helenas Tod hatte die Lage für uns verändert. Keine Mitgift für den Hof, keine zusätzliche Arbeitskraft, die wir so bitter nötig hatten. Solange ich noch gesund war, konnte ich meine Familie in dieser Zeit nicht allein lassen.

Außerdem ging mir der besorgte Gesichtsausdruck meiner Mutter nicht aus dem Kopf, den sie in Bezug auf Timmie gezeigt hatte. Neben Helenas müdem, letzten Lächeln war das die Erinnerung, welche am meisten in meinem Kopf erschien. Mutter wurde von Tag zu Tag erschöpfter, die Augenringe unter ihren blauen Augen wurden immer tiefer und sie neigte viel schneller zu Gefühlsausbrüchen. Ich musste ihr einen Teil dieser Last abnehmen.

Inzwischen war der leichte Regen vor meinem Fenster zu einem heftigen Gewitter geworden, dessen Donner in regelmäßigem Abstand durch meine Gedanken brach. Plötzlich knallte es noch lauter als zuvor und erst wenige Momente später begriff ich wegen eines weiteren leiseren Donnerschlags, dass das laute Geräusch nicht natürlich gewesen sein konnte. Jemand versuchte in unser Haus einzubrechen.

Sofort sprang ich auf und eilte die Treppe nach unten. Die Haustür hatte sich aus den Angeln gelöst beziehungsweise hing nur noch an einem lockeren Scharnier. Im Türrahmen stand eine dunkle Gestalt mit einem wehenden Mantel. Ein Blitz zuckte über den Himmel, woraufhin ich einen deutlichen Blick auf das Gesicht der Person erhaschen konnte. Es war ein Mann im Alter meiner Eltern mit hellblonden Haaren und leuchtend braunen Augen. Von seinen Mundwinkeln tropfte Blut und ich war mir sicher, dass mir der Tod gerade meine Entscheidung abgenommen hatte.




Kapitel 1

Ende März 1645 – Kristy

»Kristy, kommst du?«, rief meine Schwester Lisa, die den Kopf durch den Türspalt in mein Zimmer steckte. Ihre hellbraunen Haare fielen ihr in sanften Wellen bis kurz über die Schultern und in einige Strähnen waren kleine Blumen gesteckt worden. »Mutter will dir auch noch eine schöne Frisur flechten.«

Lisa trug ihr dunkelblaues Ritualkleid, das ihr bis zur Taille eng anlag und fest zugeschnürt war, bevor es dann fließend auf den Boden fiel. Die langen Ärmel hatte sie aufgekrempelt, weil es am heutigen Tag für Ende März doch schon recht warm war, weswegen es ihr in dem Baumwollstoff noch heißer vorkommen musste. Für den kalten englischen Winter und jeden einzelnen Regenschauer waren die Gewänder jedoch perfekt. Auch ich hatte mir schon  mein grünes Kleid angezogen, sodass der Hochzeit meiner Schwester Katherine nur noch die Frisur im Wege stand.

»Ich komme schon«, erwiderte ich, stand auf und folgte Lisa die Treppe hinunter, die zu unserem Wohnbereich führte. Im Erdgeschoss waren alle Räume offen miteinander verbunden, selbst die Küche wurde durch keine eigene Tür abgesperrt. Die privaten Schlafzimmer befanden sich alle im oberen Bereich, weswegen jeder von uns nur wenig Platz für sich hatte.

Unsere Hütte war nicht groß, aber es reichte für uns sechs oder bald nur noch fünf. Katherine würde mit ihrem Mann in eine Hütte ganz in der Nähe ziehen.

»Bist du noch einmal den Zauber durchgegangen?«, fragte Lisa mich interessiert. Da sie nur knapp ein Jahr älter war als ich, bestand zwischen uns eine enge Bindung. Mary, die dritte meiner Schwestern, war wegen ihrer Arbeit bei der Oberschicht von Exeter selten zu Hause, sodass ich eigentlich nur wenig mit ihr zu tun hatte. Doch auch mit ihr kam ich wunderbar zurecht.

Anders als mit Katherine. Seit ich denken konnte, war sie eifersüchtig auf mich, da ich am meisten gefördert wurde. Eigentlich war es immer so, dass die älteste Tochter den Einzelunterricht bekam, weil sie irgendwann die Familienhexe sein würde und die Familie im Stamm repräsentieren musste. Aber dann hatten sich bei mir die übernatürlich starken Kräfte bemerkbar gemacht. Jeder sagte mir inzwischen, dass ich die stärkste Hexe sein würde, die es jemals gegeben hatte. Genau aus diesem Grund planten nun auch alle mit mir als Familienhexe und nicht mehr mit Katherine, obwohl sie acht Jahre älter war.

»Ein bisschen, es ist schließlich kein schwieriger Zauber. Ich mache mir nur Sorgen wegen Katherines Reaktion. Du weißt ja, wie sie zu mir steht«, antwortete ich.

»Das wird sich alles legen. Es wird euch auf jeden Fall guttun, wenn ihr euch nicht mehr jeden Tag seht«, versuchte Lisa mich zu beruhigen, ehe sie mich mit meiner Mutter allein ließ.

Mutter saß auf einem kleinen Holzstuhl an der Gartentür, durch welche Sonnenstrahlen in den Wohnbereich drangen. Ihre blonden Haare leuchteten in diesem Licht leicht golden, was mit den kleinen Gänseblümchen in ihrem Dutt eine wunderschöne Harmonie darstellte. Sie machte sich sogleich an die Arbeit, um auch meine Haare mit Blumen zu verschönern. Wir hatten nur noch eine halbe Stunde Zeit, bis die Zeremonie auf der Waldlichtung beginnen würde. Außer Lisa, Mutter und mir schien der Rest schon in den Wald gegangen zu sein, denn ich konnte niemanden sonst in unserem Haus hören oder im Garten sehen.

Mir wurde ein Fischgrätenzopf geflochten, in den sie ebenfalls einige Gänseblümchen steckte. Eine Hochzeit war ein Neubeginn im Leben einer jeden Hexe und bedeutete auch Fruchtbarkeit, welche die Blumen in unseren Haaren bezeugen sollten.

»Du siehst wunderschön aus, Liebling«, flüsterte Mutter mir ins Ohr, als sie meine Frisur ein letztes Mal begutachtete. Über ihrem gelben Ritualkleid trug sie einen roten Umhang, den ich nur bei schlechtem Wetter aus dem Schrank holte. Wie hielt sie es nur darunter aus? Mir rannen jetzt schon Schweißtropfen über die Stirn.

Unbeteiligte fanden es immer überraschend, dass meine Geschwister und ich wirklich verwandt waren, denn jeder von uns hatte eine andere Haarfarbe. Katherine hatte das blonde Haar meiner Mutter geerbt, Mary die schwarzen Haare unseres Großvaters väterlicherseits, Lisa Grandmas braune Haare und ich die roten Haare meines Vaters. Darauf war ich besonders stolz, da ich doch etwas von meinem Vater erhalten hatte. Leider hatte ich ihn nie kennenlernen können, weil er vor meiner Geburt ums Leben gekommen war.

»Mutter, Katherine heiratet. Nicht ich. Sie sollte im Mittelpunkt stehen«, protestierte ich. Ich wollte Katherine nicht auch noch ihren schönsten Tag verderben, nur weil alle mich bevorzugten. Aus diesem Grund ließ ich Mutter wortlos stehen und ging zu Lisa, die im Garten auf uns wartete. Damit wir, ohne gesehen zu werden, in den Wald gelangen konnten, hatte Grandma vor vielen Jahren eine Hecke angelegt, die bis an den Waldrand reichte. Sie sollte unliebsame Blicke abhalten und verhindern, dass Menschen uns zu den Ritualen in den Wald folgten.

Vögel zwitscherten im Wald, während wir versuchten, auf keinem herumliegenden Ast auszurutschen oder nicht mit den Kleidern in Ästen hängen zu bleiben.

Wenn ich ruhige Momente benötigte, hatte ich mich schon oft auf den Weg zur Lichtung gemacht, um dort allein zu sein. Meine Kräfte waren nützlich und ich genoss es auch, wenn ich nicht allein war, aber … Manchmal brauchte auch ich meine Zeit für mich. Innerlich war ich doch nichts anderes als nur ein ganz normales junges Mädchen.

Auf der Lichtung erwarteten uns schon alle Mitglieder unseres kleinen Hexenstammes. In die Mitte hatte man einen Kreis aus kleinen weißen Steinen gelegt, in den alle Stammesmitglieder vor dem Beginn der Zeremonie treten mussten. Die Steine mussten komplett weiß sein, sonst konnten sie die Magie nicht absorbieren, die in dem Kreis herrschte, und einen Schutzschirm bilden.

»Hallo, Mary«, flüsterte ich meiner Schwester zu, als ich meinen Platz neben ihr in diesem Kreis einnahm. Ihre tiefschwarzen Haare hatte sie in dem gleichen Dutt wie Mutter zusammengesteckt, in dem Blumen befestigt waren, die die gleiche Farbe wie ihr dunkelrotes Ritualgewand aufwiesen.

»Hallo, Kristy. Stimmt es, dass du einen besonderen Zauber ausführen wirst?«, erwiderte Mary lächelnd und drückte mich kurz.

»Ja«, antwortete ich vorsichtig. »Eigentlich wollte ich nicht, aber Joanna hat mich mehr oder weniger dazu gezwungen. Wenn ich es nicht mache, gibt sie mir keinen Zauberunterricht mehr, hat sie gesagt.« Und dann würde ich Schwierigkeiten haben, meine Kräfte zu kontrollieren, warnte sie mich immer, obwohl ich das irgendwie nicht ganz glauben konnte. Besorgt ging ich den Zauberspruch noch mal durch, dabei hatte ich in den letzten Tagen schon nichts anderes mehr geübt.

Ein Rütteln riss mich wieder aus meinen Gedanken. Vor mir stand Sylvia, die Tochter unserer Stammesführerin, deren hellblonde Haare offen über das violette Kleid bis auf ihre Brust hingen. »Sie sind fertig«, verkündete sie mit lauter Stimme, woraufhin alle Gespräche im Kreis verstummten.

Mit majestätischen Schritten näherte sich unsere Stammesführerin dem Kreis. Ihr schwarzes Kleid und auch die ebenfalls hellblonden Haare wehten im Wind, den sie heraufbeschwor. Dieser sollte die Naturgewalt unserer Göttin Gaia symbolisieren, die bei jedem Ritual anwesend war. Sie war die wichtigste Instanz in unserem Hexenleben, da wir unsere Kräfte allein der Natur und Gaia zu verdanken hatten.

Einige Schritte hinter unserer Stammesführerin konnte ich Katherine und Jacob entdecken. Meine älteste Schwester sah heute atemberaubend aus. Ihre honigblonden Haare waren zu Schnecken zusammengesteckt worden und wunderschöne weiße Lilien befanden sich in deren Mitte. Dazu trug sie ihr oranges Festgewand, über dem ein weißer Umhang lag. Mein zukünftiger Schwager Jacob Coldwell trug sein hellrotes Festgewand, das durch ein weißes Band am Bauch zusammengehalten wurde, um wenigstens etwas Form zu bekommen. Darüber lag der weiße Umhang, der das Brautpaar kennzeichnete.

Als auch die beiden den Kreis betreten hatten, schloss Sylvia diesen mit dem magischen Schlussstein und leitete somit den Beginn der Hochzeitszeremonie ein. Joanna stimmte einen Gesang auf Gälisch an, in den wir alle einstimmten. Gälisch hatte sich als Hexensprache durchgesetzt, da die größten und mächtigsten Hexenfamilien alle ihren Ursprung in Irland hatten.

Das Lied, das wir gerade sangen, bedeutete übersetzt, dass Gaia die Menschen leitete und jede Entscheidung einen Sinn hatte. Ohne Gaia wäre ein Leben nicht möglich, denn sie war die Quelle allen Lebens.

Auf diesen Gesang folgte ein Lied der Hoffnung, während Katherine und Jacob vor Joanna niederknieten. Sie nahm ihnen ein magisches Gelübde ab, sich immer zu lieben und zu ehren. Das Gelübde war so bindend, dass es nur durch den Tod gebrochen werden konnte, und es gab Gerüchte, wonach sich Liebende in ihrem nächsten Leben wiederfanden.

Nachdem Katherine und Jacob wieder aufgestanden waren, nahmen sie sich an den Händen. Die hellblauen Augen meiner Schwester spiegelten ihre Liebe zu Jacob wider, die ich auch in seinen braunen Augen erkennen konnte.

Während wir das Hoffnungslied weitersangen, beschwor Joanna die weiße Macht herauf, welche sich wie ein dünnes Band um die verschränkten Hände des Brautpaars wand. Das Band bewegte sich auf die Hände zu, bis es mit den Körpern verschmolz, die daraufhin kurz aufleuchteten. Die Zeremonie war damit vollzogen, Jacob und Katherine waren nun verheiratet.

Das war mein Zeichen. Leise murmelte ich den Zauberspruch, woraufhin über dem Brautpaar rote Rosen vom Himmel herabfielen. Sofort drehte sich meine Schwester zu mir um und warf mir einen dankbaren Blick zu. Schüchtern erwiderte ich ihn mit einem Lächeln und ließ eine Rose direkt in ihre immer noch verschränkten Hände sinken.

Joanna beendete das Ritual und wünschte dem Brautpaar viel Glück auf seinem weiteren Lebensweg, bevor sie und Sylvia die Feier auch schon wieder verließen, um einen Kranken aus unserem Stamm zu versorgen. Außerdem fand das Festmahl im Anschluss an die Zeremonie nur für die Familien statt.

Aus diesem Grund teilten auch alle weiteren Stammesmitglieder dem Brautpaar ihre Glückwünsche mit, ehe wir uns auf den Weg zu unserer Hütte machten, in deren Garten das Festmahl stattfinden würde.

Der Rückweg zu unserem Haus gestaltete sich für eine von uns als sehr angenehm. Jacob trug seine frischgebackene Ehefrau so problemlos auf seinen Armen, dass es den Anschein hatte, meine große Schwester wäre leicht wie eine Feder. Nun ja, aber wie hieß es immer: Liebe verlieh Flügel.

»Herzlichen Glückwunsch, Katherine«, beglückwünschte ich meine Schwester zögerlich, als wir unseren Garten erreichten, wo Jacob sie wieder auf ihre eigenen Beine stellte.

»Danke«, erwiderte Katherine lächelnd, wobei sich für mich unerklärliche Sorgenfalten auf ihrer Stirn abzeichneten. »Kristy, kann ich kurz mit dir unter vier Augen sprechen?«

Nervös stimmte ich zu. Wir ließen alle anderen Gäste einige Schritte weitergehen, bevor Katherine es für sicher befand, mit dem Reden zu beginnen. »Du hast doch sicher schon von der Hexenverfolgung in Essex erfahren, oder?«

Ich schluckte zweimal schwer. Ja, die Hexenverfolgung in Essex und auf dem europäischen Festland war inzwischen auch zu uns durchgedrungen. Niemand von uns konnte wissen, wie lange wir hier in Devon noch sicher davor waren.

»Im Stamm haben wahrscheinlich schon alle davon gehört«, antwortete ich stirnrunzelnd. »Wieso fragst du?«

Katherine fing an, vor mir auf und ab zu gehen. Dabei fuhr sie sich so schnell über ihre Haare, dass sich viele Strähnen aus der Frisur lösten, was sie jedoch nicht zu stören schien. »Du darfst keinem vertrauen. Selbst wenn du denkst, dass derjenige dein bester Freund ist. Man weiß nie, wie weit Menschen gehen können«, riet sie mir. »Mich lässt das Gefühl nicht los, dass die Hexenjäger schon näher sind, als wir es ahnen.«

»Du bist aber auch in Gefahr. Jede Hexe ist in Gefahr, wenn die Jäger auftauchen«, erinnerte ich sie, während ich gedankenverloren den Fischgrätenzopf löste und meine Haare ausschüttelte. Worauf wollte sie mit diesem Gespräch hinaus? So gefährlich war es doch noch gar nicht, oder?

»Aber ich habe keine solch starken Kräfte wie du. Dir ist es vielleicht nicht klar, aber um dich herum kann man kleine Schwingungen spüren, wenn man darauf achtet. Ich weiß nicht, wie die Hexenjäger auf ihrer Jagd vorgehen, aber deine Kräfte sind bemerkbar«, erklärte Katherine mir. »Jetzt bin ich fast erleichtert, dass ich nicht diese großen Kräfte bekommen habe.«

Mir klappte der Mund auf. Könnte das ein Versöhnungsversuch sein? War das der wahre Grund des Gespräches?

»Katherine, ist das ein Friedensangebot?«, wollte ich vorsichtig von meiner ältesten Schwester wissen.

Sie lächelte mich liebevoll an. »Ja, das ist es. Es tut mir leid, dass ich immer so eifersüchtig auf dich war. Du hattest das nie verdient, weil du weder etwas für deine Kräfte noch für den Tod unseres Vaters kannst«, antwortete Katherine schuldbewusst, dann fielen ihr die lockeren Strähnen auf, die aus ihren zu Schnecken aufgedrehten Haaren heraushingen. Ihr Lachen daraufhin war so ansteckend, dass auch ich mit einstimmte, während meine große Schwester genauso wie ich die Frisur ganz löste, sodass ihre langen Haare über ihren Rücken wallten.

»Liebste, wir müssen unsere Rede halten«, erinnerte Jacob seine Frau. Er war bei seiner Familie gewesen und kam jetzt wieder zu uns zurück, da alle Gäste nur noch auf uns zu warten schienen.

»Ich komme«, erwiderte diese und wandte sich an mich. »Es tut mir wirklich leid.«

Zu dritt machten wir uns auf den Weg zu dem großen Holztisch, der mit vereinten Hexenkräften in den Garten getragen worden war, als mein Herz schneller zu schlagen begann. Panisch blieb ich stehen. Nein, das konnte jetzt nicht wirklich sein, oder?

»Kristy?«, fragte Katherine besorgt. »Ist alles …?«

Ihre weiteren Worte verstand ich gar nicht mehr, denn plötzlich wurde es schwarz vor meinen Augen. Wie bei jeder Vision fühlte es sich an, als würde ich innerlich auseinandergerissen. Jeder Körperteil schmerzte. Ich fühlte mich, als würde ich einen tiefen Brunnen hinabstürzen, und gleichzeitig kam es mir vor, als würden dicke Steine auf mich fallen. Wenige Momente wurde das Gefühl auch schon wieder schwächer, woraufhin ich auch wieder die Augen öffnen konnte.

Die Welt um mich herum war mir vollkommen fremd. Alle Gebäude ragten bis in die Wolken hinein, während ich kleine Häuser wie unseres überhaupt nicht entdecken konnte. Wo war ich hier gelandet? Diese Stadt kam mir so unwirklich vor, wie ein Ort, den es gar nicht geben sollte. Ein junger Mann mit blonden Haaren ging an mir vorbei und ich verspürte den Drang, ihm zu folgen. Er war also der Grund dieser Vision? Aber ich kannte diesen Mann doch gar nicht. Was tat ich hier? Wieso war ich hier?

Vorsichtig kam ich ihm immer näher, ehe mein Blick auf einen Stand mit vielen Zeitungen fiel. Beziehungsweise nicht direkt auf den Stand, sondern auf das Datum, das auf diesen Blättern abgedruckt war: 25.08.2015. 2015?! Ich war knapp vierhundert Jahre in der Zukunft? Jetzt war mir klar, wieso ich nichts erkannte, doch der Sinn dieser Vision war mir nicht nur schleierhaft, sondern noch unverständlicher als zuvor.

Scheinbar hing alles mit diesem jungen Mann zusammen, der gerade eines dieser riesigen Gebäude betrat. Zeigte sich mir hier eine Welt, in der Hexen nicht mehr in Gefahr waren? Die Türen hatten sich vor ihm geöffnet, ohne dass er die Türklinke benutzen musste. Oh Gaia, gib mir doch bitte einen Hinweis darauf, was ich hier tue!

Ich folgte dem Mann einige weiße Gänge entlang, bis wir vor einer durchsichtigen Tür stehen blieben. Dort löste sich ein anderer Herr von der Wand und begann lautstark auf den jungen Mann, dem ich gefolgt war, einzureden. »Jonathan, bist du dir wirklich ganz sicher? Wir können sie mit nichts konfrontieren, ohne zu wissen, ob es stimmt.«

Der blonde Mann, dessen Name also Jonathan war, nickte vehement. »Marcus, ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass sie es ist. So unglaublich es scheint, ich habe sie gesehen. So muss es sein.« Seine Stimme hörte sich bei diesen Worten so überzeugt an, dass selbst ich keine Zweifel hatte, obwohl ich gar nicht wusste, worum oder um wen es in diesem Gespräch ging.

Während des Gesprächs war ich den beiden Männern immer näher gekommen, sodass ich sie jetzt ganz genau betrachten konnte. Beide waren beinahe einen Kopf größer als ich, wobei der andere Mann kleiner war als Jonathan.

Marcus trug seine dunkelbraunen Haare bis zum Kinn und hatte ein sehr kantiges Gesicht, das auch einige Narben aufwies. Diese Wundmale schienen von seinen Augen auszugehen, die in einem strahlenden Silber leuchteten.

Jonathans blonde Haare waren kürzer und standen wild vom Kopf ab. Sein sanftes Gesicht zeichnete keine einzige Narbe und alles an ihm wirkte um einiges weicher als bei Marcus. Das Prägende an ihm stellten jedoch seine smaragdgrünen Augen dar, um deren klare Farbe ich ihn sofort beneidete. Solche Augen konnte man nicht vergessen.

Bevor ich jedoch herausfinden konnte, wieso ich genau diesen Moment miterlebt hatte, spürte ich wieder das gleiche Ziehen wie schon am Anfang der Vision.

Als meine Sicht sich dieses Mal klärte, befand ich mich in Jacobs Armen, der mich eilig in unser Haus trug. Neben ihm rannten Katherine und Lisa, die als Erste mein Erwachen bemerkten. »Hattest du eine Vision?«, wollte Lisa sofort von mir wissen.

Kraftlos nickte ich. »Alles war so verwirrend. Das war die erste Vision, bei der ich nicht verstehe, wieso Gaia sie mir geschickt hat.«

Jacob ließ mich vorsichtig auf mein Bett sinken.

»Geht es wieder, Kristy?«, fragte Katherine besorgt nach. »Brauchst du etwas? Sollen wir dir etwas bringen?«

»Nein, nein.« Ich wollte ihre Feier jetzt nicht durch diese Vision zerstören. »Feiert ihr mal schön, während ich mich hier ausruhe.«

Widerwillig ließen sie mich allein, woraufhin ich nur wenige Momente später in einen traumlosen Schlaf fiel. Aus diesem Grund hasste ich Visionen auch so sehr: Sie raubten mir all meine Kräfte, sodass ich immer eine Zeit lang Ruhe brauchte, ehe ich wieder zaubern konnte.

Als ich wieder wach wurde, saß Lisa an meinem Bett. »Die Gäste sind leider schon gegangen, während du geschlafen hast. Ich soll dir aber ihre Genesungswünsche ausrichten«, erklärte sie freundlich lächelnd. »Mutter bereitet dir gerade einen Tee vor, damit du schnell wieder auf die Beine kommst.«

»Wunderbar«, flüsterte ich müde. »Was habe ich noch verpasst?« Beim Aufsetzen brauchte ich sogar die Hilfe meiner Schwester, so sehr zehrte die Vision immer noch an meinen Kräften.

»Nicht viel«, erwiderte Lisa abwinkend. »Katherine und Jacob haben ihre Rede gehalten und dann gab es Essen. Das Interessanteste war da noch, dass morgen eine neue Lordschaft in das Anwesen am Waldrand einzieht. Mary musste deswegen früher weg, weil noch einiges vorzubereiten ist.«

»Eine neue Lordschaft?«, fragte ich erstaunt. Seit Beginn des Bürgerkrieges hatten wir keinen Earl mehr gehabt, denn der alte war mit seiner Familie geflohen, als die Parlamentarier Devon eingenommen hatten. Inzwischen befand sich die Grafschaft wieder im Besitz des Königs, was diese neue Entwicklung erklären könnte.

»Ja«, antwortete Lisa. »Es ist scheinbar eine ganze Familie. Mehr wollte Mary dazu aber auch nicht sagen, höchste Geheimhaltung.« Unsere wissenden Blicke begegneten sich, während sich ein aufgeregtes Grinsen auf mein Gesicht schlich. Bei der Ankunft der neuen Lordschaft morgen wollten wir am Anwesen warten und sie beobachten. Dafür mussten wir nur noch einen Weg finden, um das Haus zu verlassen.


*Leseprobe Ende*

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