Leseprobe Teufelstochter: Chroniken des Himmels 2

Leseprobe Teufelstochter: Chroniken des Himmels 1

Hierbei handelt es sich um eine Leseprobe zu Teufelstochter, dem zweiten Teil von Chroniken des Himmels. Lies sie nur, wenn du Teil eins schon gelesen hast. Du könntest dich sonst spoilern.

Kapitel 1

Cover Teufelstochter - Chroniken des Himmels 2 für Fantasywesen Test

Keine Ahnung, wie Luzifer sich in dieser Dunkelheit zurechtfand. Für mich sah alles wie dasselbe Schwarz aus. Es gab nichts, woran ich mich orientieren konnte. Und das schon seit einer gefühlten Ewigkeit.

Anfangs hatte ich es noch genossen. Die Dunkelheit zwang mich dazu, mich zu konzentrieren, damit ich nicht stolperte. So konnte ich mich gar nicht mit meinen Gedanken beschäftigen, die immer wieder die Bilder aus der Villa heraufbeschworen. Zwar wies mein Vater mich auf gefährliche Felsvorsprünge hin, aber sicher war sicher.

Inzwischen war ich jedoch nicht mehr froh über die Ablenkung. Stattdessen hatte ich das Gefühl, als würden die Wände immer näher kommen. Weiterhin kein Licht am Ende des Tunnels. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Es konnte sein, dass Stunden vergangen waren, aber auch Tage würden mich jetzt nicht mehr wundern.

»Ist es noch weit?« Ich beschleunigte meinen Schritt, um zu Luzifer aufzuschließen. Zwischen meinem Vater und mir lagen schon wieder viel zu viele Meter.

Er sah zu mir, schüttelte den Kopf und deutete auf einen Punkt in einiger Entfernung. »Nein, siehst du die Biegung dort vorn?«

Obwohl ich außer Dunkelheit nichts wahrnahm, nickte ich. Vor mir sah alles gleich aus. Erstaunlich, dass er hier irgendetwas voneinander unterscheiden konnte, was nicht innerhalb einer Armlänge lag.

»Dahinter liegt der Ausgang.«

Erleichtert atmete ich auf und die Last auf meiner Brust löste sich auf bei der Aussicht, endlich diese unendliche Schwärze zu verlassen. Allerdings blieb weiterhin eine Spur davon zurück. Zu erdrückend lagen die Ereignisse in Gabriels Villa auf meiner Seele.

Gabriel.

Allein beim Gedanken an ihn zog sich mein Herz zusammen. Gleichzeitig flammte Wut gegen Michael auf. Luzifer hatte gemeint, dass der Erzengel von Europa noch lebte. Hoffentlich hatte er recht. Ich wollte nicht schuld daran sein, dass Gabriel tot war.

Nicht nur wegen seiner Position in der Welt. Nach allem, was er für mich getan hatte. Nach dem Kuss. Er durfte nicht tot sein.

»Schau!« Luzifers Stimme riss mich aus meinen Gedanken, die sich in einer stetigen Abwärtsspirale befunden hatten.

Erst verstand ich nicht, was er meinte. Doch dann erkannte ich, dass die Dunkelheit sich verflüchtigte. Licht breitete sich im Tunnel aus und unwillkürlich glitt ein Lächeln auf mein Gesicht. Das Ende war in Sicht.

»Der Ausgang«, flüsterte ich.

»Oder der Eingang«, erwiderte Luzifer, auf dessen Gesicht ich ebenfalls ein Lächeln entdeckte. »Der Eingang zu meinem Reich.«

Die Hölle. Hätte mir jemand vor meiner Beflügelung gesagt, dass ich nur wenige Wochen später freiwillig dorthin gehen würde, hätte ich diese Person für verrückt erklärt. Doch seitdem war so viel passiert, was ich niemals für möglich gehalten hätte. Angefangen bei meinen schwarzen Flügeln, der Vereinbarung mit den Erzengeln, dem Kuss mit Gabriel bis hin zu Michaels Verrat und dem Brand in der Villa. Es waren gerade mal knapp zwei Wochen seit der Veranstaltung vergangen, aber die Jasmin ohne Schwingen fühlte sich wie eine meilenweit entfernte Person an.

Wir kamen an einer Art Felsvorsprung heraus, der über eine weite Landschaft ragte. Entgegen meiner Erwartung war nicht alles dunkel und trist. Ich hatte mit Wüsten und Lavaströmen gerechnet, die mich zum Schwitzen brachten und Rauch in meine Augen trieben. Irgendetwas, das zu dem schrecklichen Bild des Teufels passte, das uns im Elfenreich vermittelt wurde. Doch ich wurde eines Besseren belehrt, denn unter mir befanden sich weite Wiesen, kleine Häuser und strahlend blaue Flüsse. Nur der Vulkan auf der anderen Seite des Gebiets passte zu meiner Vorstellung.

»Wow«, flüsterte ich. »Damit hatte ich nicht gerechnet.«

Luzifer lachte leise. »Überraschung, die Hölle ist keine große Folterkammer.«

»Es sieht so friedlich aus. Wie vereinst du das damit, dass die Toten, die hier landen, böse Dinge getan haben?«

So gut es ging, nahm ich jedes Detail in mich auf. Die verschiedenen Häuser, aus deren Kaminen vereinzelt Rauch aufstieg. Türme und herrschaftliche Gebäude zogen mich ebenfalls in ihren Bann. Zwar war ich zu weit entfernt, um alles zu erkennen, aber die vielen kleinen Personen, die zwischen den Häusern hin und her liefen, entgingen mir nicht. In der Hölle pulsierte das Leben.

»Hier entscheide ich, wer böse ist und wer nicht. Manche Delikte, die als zu schrecklich für das Paradies angesehen werden, spielen bei mir keine Rolle. Nur weil jemand zum Beispiel an keine Gottheit glaubt, ist die Person kein schlechter Mensch. Aber falls es dich beruhigt: Mörder befinden sich im Bereich des Vulkans. Für bestimmte Fälle gibt es nach dem Tod nur den Weg der ewigen Buße.« Er deutete zu dem hohen Berg, an dessen Hängen ich die erwarteten Lavaströme erkannte. »Bevor ich hierherkam, waren alle Felder eine triste Landschaft, die nur dazu diente, die Toten zu zermürben. Das habe ich geändert.«

»Wieso weiß niemand davon? Also von diesen Veränderungen?« Dieses Wissen würde sein ganzes Bildnis ändern. Der böse Teufel, der jeden bestrafte, wäre sicherlich vom Tisch. Davon war ich fest überzeugt.

Luzifer zog die Augenbrauen hoch, wobei er hämisch lächelte. »Kannst du es dir nicht denken? Wer dafür gesorgt hätte, dass mir niemand glaubt?«

Kurz überlegte ich, aber dann verstand ich, was er meinte. Michael hatte das Bild des bösen Ex-Erzengels aufrechterhalten, der die Hölle tyrannisierte. Er hatte die Angst vor dem Teufel geschürt, weil es ihm seine – ja, was war es eigentlich? – Herrschaft erleichterte.

»Wir müssen ihn stoppen«, bekräftigte ich noch mal, was ich schon am Anfang des Tunnels gesagt hatte. »Das darf so nicht weitergehen.«

»Lass uns das am besten in meiner Burg besprechen«, schlug Luzifer vor, jetzt wieder ernst. Das Lächeln war zusammengepressten Lippen gewichen und ich konnte mir gut vorstellen, dass die Sorgenfalte auf seiner Stirn Elvira galt. Meiner leiblichen Mutter, die Michael in seiner Gewalt hatte.

»Deiner Burg?« Verwirrt ließ ich den Blick wieder über die Ebene gleiten. Dort war nichts zu sehen, worauf die Beschreibung zutraf. Nichts, was auch nur ansatzweise an ein solches Gebäude erinnerte. Ja, prunkvolle Bauten gab es einige, aber keine, die zu meiner Vorstellung passte.

Luzifer schwang sich so schnell in die Luft, dass die lockere Erde unter uns aufgewirbelt wurde. »Folg mir. Dann zeige ich sie dir.«

Immer noch verwirrt breitete ich ebenfalls die Schwingen aus und stieß mich vom Boden ab. Ein leichtes Ziehen in meiner Rückenmuskulatur meldete sich, aber es war deutlich schwächer als noch vor wenigen Tagen. Der Flugunterricht mit Raphael zeigte Wirkung.

Davon würde es wahrscheinlich in nächster Zeit keinen weiteren geben. Der charmante und vor allem lustige Erzengel stand auf der gegnerischen Seite. Schließlich war er Gabriels bester Freund und ich hatte diesen angegriffen. Zumindest, wenn man Michael Glauben schenkte, was die meisten tun würden. Seine Soldaten hatte seine Aussage keine Sekunde bezweifelt.

Ich presste die Lippen aufeinander. Mit meiner Entscheidung für Luzifer war ich zum Feind geworden. Wenn ich in diesem Umfeld bestehen wollte, war Kämpfen ab einem gewissen Punkt unvermeidlich. Obwohl ein nicht gerade kleiner Teil in mir danach schrie, durfte ich mich nicht verstecken.

Während ich Luzifer die Steilwände am Rand der Ebene nach oben folgte, war mein Kopf zum ersten Mal nicht mehr so beschäftigt, dass ich die Bilder des Feuers ausblenden konnte. Unaufhaltsam strömten die Momente auf mich ein. Die Flammen. Das Gefühl der Machtlosigkeit. Als ich rein gar nichts tun konnte. Gabriel, der unaufhörlich vom Feuer verschlungen wurde. Bis er sich vor meinen Augen auflöste.

Mein Magen fühlte sich an, als müsste ich mich gleich übergeben. Ich hatte versagt.

Ich hätte vorsichtiger sein müssen. Dann wäre das alles nicht passiert. Wäre ich Michael nur nicht so kühn gegenübergetreten. Oder zumindest erst später, wenn ich schon etwas mehr Erfahrung gehabt hätte. Vielleicht hätte ich dann gegen ihn bestanden und nicht Gabriel in Brand gesteckt.

»Jasmin, kommst du? Dort unten wirst du die Burg nicht zu Gesicht bekommen!«

Erschrocken zuckte ich bei Luzifers Stimme zusammen und sackte erst mal ein paar Meter nach unten. Dann verstärkte ich meine Flügelschläge, um seine Position zu erreichen. Jegliche Ablenkung war willkommen und wenn es nur die richtige Bewegung meiner Schwingen war.

Als ich neben ihm schwebte, riss ich die Augen auf. Vor mir breitete sich am Rand der Steilwand eine massive Burg aus, die ich vom Vorsprung aus gar nicht als solche wahrgenommen hatte. Was ich für Bergspitzen gehalten hatte, waren in Wahrheit Türme. Die Mauer war Teil des Felsens und schirmte mit drei weiteren einen quadratischen Innenhof ab. Dahinter begann ein langer Gebäudekomplex, der endlos um die Hölle herumzugehen schien. Zumindest konnte ich kein Ende entdecken.

Wir landeten und sofort kam ich mir ganz klein vor. Von oben hatten die Mauern massiv, aber nicht riesig gewirkt. Jetzt hatte ich das Gefühl, sie reichten bis in den Himmel. Oder zumindest das, was man hier als solchen bezeichnen konnte.

»Diese Burg existierte schon, bevor ich die Hölle übernahm. Sie soll die Toten daran hindern, in die Menschenwelt zu flüchten«, erklärte Luzifer und bedeutete mir, ihm zu einer der Türen zu folgen. »Bleib bitte im Bereich des Innenhofs, wenn du allein unterwegs bist. Ansonsten ist die Gefahr groß, dass du dich im Ring verlierst.«

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und ich nickte. Ich konnte gut und gern darauf verzichten, mich in dieser Begrenzung, die anscheinend um die ganze Hölle ging, zu verlaufen.

Wir ließen den Innenhof hinter uns und betraten eine Art Eingangshalle. Jedoch war diese sehr karg eingerichtet und kein Vergleich zu der in Gabriels Villa. Keine Gemälde, Verzierungen oder Teppiche zierten die Wände. Stattdessen nur dunkler Stein, der von vereinzelten Lampen erhellt wurde. All das jagte mir einen Schauder über den Rücken. Heimelig war etwas anderes.

Erst, als Luzifer mich in einen erstaunlich modernen Raum führte, wurde ich eines Besseren belehrt. Regale voller Bücher und Ordner, ein großer Ebenholztisch in der Mitte und am Rand eine Art Couch mit Decke hauchten diesem Zimmer Leben ein.

Genau dieses Sofa steuerte mein Vater an. Kurz blieb ich unschlüssig stehen, aber dann klopfte er auf den Platz neben sich. Als ich mich setzte, nahm er meine Hand und drückte sie fest.

»Jetzt erzähl mir, was genau ist passiert, bevor Gabriels Villa Feuer fing?«

Sofort schossen die Bilder wieder in meinen Kopf. Am liebsten hätte ich sie ein weiteres Mal in den hintersten Winkel meiner Gedanken verbannt. Gleichzeitig wusste ich, dass das keine Lösung war. Wenn ich dabei helfen wollte, Michael zur Rechenschaft zu ziehen, musste ich alles erzählen. Nur wenn Luzifer die ganze Sachlage kannte, konnte er etwas dagegen tun und verhindern, dass es ein weiteres Mal so eskalierte.

»Nach unserem Gespräch habe ich mit Gabriel ganz normal trainiert. Dann musste er aber noch mal weg und ich wollte die Chance nutzen, um die Schriftprobe zu vergleichen. Also bin ich gemeinsam mit Jeanne, äh … Elvira, in sein Büro und habe nach dem echten Brief gesucht. Als wir den gefunden haben, war mir schnell klar, dass du die Wahrheit gesagt hast. Das sah einfach nicht identisch aus.« Daran, den richtigen Namen meiner Mutter zu benutzen, musste ich mich definitiv noch gewöhnen.

Luzifer nickte. Zwar lächelte er, aber durch die aufeinandergepressten Lippen wirkte es kein bisschen freudig. »Deswegen hast du ihn zur Rede gestellt?«

Ich wiegte den Kopf hin und her. Wenn ich ehrlich war, hatte ich gar keine Wahl gehabt. »Nicht direkt. Michael ist plötzlich hinter uns aufgetaucht. Anfangs habe ich ihn nur nach dem Brief gefragt. Im Laufe des Gesprächs hat er in meinen Gedanken gelesen, dass ich dich gesehen habe. Er wollte mich angreifen, aber Jeanne ging dazwischen. Sie meinte, ich solle fliehen und dich informieren, aber ich habe es nur bis zur Treppe geschafft. Plötzlich stand er wieder vor mir und hat mich gefangen genommen. Irgendwie hat er mich eingefroren, sodass ich mich nicht bewegen konnte. Er meinte, er müsse sich erst um Elvira kümmern und würde dann nach mir sehen. Frag mich bitte nicht, wie genau ich es gemacht habe, aber ich habe die Erstarrung gelöst und wollte erneut aus der Villa fliehen. Jeanne konnte ich da schon nicht mehr finden. Auf dem Weg nach draußen bin ich dann Michael und Gabriel begegnet. Michael hat seinem Bruder erzählt, dass Jeanne und ich von dir manipuliert wurden und er sich darum kümmern würde. Anfangs habe ich mitgespielt und so getan, als würde ich langsam wieder zur Besinnung kommen. Eigentlich hätte mir da schon klar sein müssen, dass etwas nicht stimmt. Michael hat mich viel zu viele Lügen erzählen lassen, ohne Einspruch einzulegen. Er schien wirklich zuzulassen, dass Gabriel mich nach Hause ins Elfenreich bringt. Aber an der Terrassentür sind meine Kräfte explodiert. Feuer schoss aus mir hervor und Gabriel … Er stand in Flammen. Natürlich wollte ich sie sofort löschen, aber ich hatte keine Kontrolle mehr über meine Magie. Und dann …«

Ich schluckte schwer, weil es mir schwerfiel, zu sprechen. Allerdings brachte das nichts. Der Kloß blieb in meinem Hals.

»Dann hat er sich einfach in Luft aufgelöst. Sein ganzer Körper ist einfach verschwunden. Michael, der mir wohlgemerkt die ganze Zeit nicht geholfen hat, tat so, als wäre es meine Schuld, dass Gabriel tot ist. Weil es mein Feuer war. Da sind bei mir die Sicherungen durchgebrannt. Ich meine, er beherrscht auch Feuer. Er hätte genauso gut was tun können. Stattdessen stand er nur nutzlos neben mir, während sein Bruder Schmerzen hatte. Dafür wollte ich ihn bezahlen lassen.«

Schnell blinzelte ich gegen die Tränen in meinen Augen an, doch sie rannen mir trotzdem über die Wangen.

»Die Flammen, die Michael erwischen sollten, haben nur das Haus in Brand gesteckt. Er spazierte einfach hinaus. Dort wollte ich ihn noch mal zur Rede stellen, aber seine ganze Armee wartete schon auf mich. Wer weiß, ob ich ihnen ohne dich entkommen wäre.«

Mein Atem ging schneller, als ich die Geschichte beendete. Als wäre ich einen Marathon gelaufen. Genauso fühlte ich mich auch. Erschöpft und seelisch ausgelaugt. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen, um wieder zur Ruhe zu kommen. Tatsächlich herrschte auch für kurze Zeit Stille, sodass ich mich auf das Atmen konzentrieren konnte.

»Wie haben sich deine Kräfte angefühlt, als sie, wie du sagst, explodiert sind?«, wollte Luzifer von mir wissen, als ich die Augen wieder öffnete, und strich mir liebevoll über den Arm.

»Als wären sie kein Teil von mir. Da war diese Wand in meinem Kopf, die ich nicht durchbrechen konnte«, antwortete ich und dachte aktiv an den Moment zurück. An meinen erstarrten Körper und die Flammen, die ich einfach nicht zu fassen bekam. »Es hat alles an der Terrassentür begonnen. Urplötzlich war mir so unglaublich heiß und alles musste aus mir raus. Es war ein Druck, dem ich nicht gewachsen war. Das war nur so, als ich zum ersten Mal meine Kräfte benutzt habe. Danach und auch bei Michaels Unterricht habe ich mich nie mehr so gefühlt.«

Luzifer entwich ein Seufzen. »Oh, Michael, oh, Michael«, murmelte er, stand auf und trat an eines der Regale. Ohne lang zu suchen, holte er eine Pergamentrolle hervor. »Weißt du, wie wir Erzengel erschaffen wurden?«

Ich schüttelte den Kopf und zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. Was hatte das mit den heutigen Geschehnissen zu tun?

»Ursprünglich gab es keine Erzengel. Gut, ursprünglich hatten die geflügelten Wesen auch keine Körper, aber das ist eine andere Geschichte. Die Engel verteilten sich immer mehr über den ganzen Erdball und es wurde beschlossen, dass wir Verantwortliche brauchen, die alles überwachen. Also wurden die reinsten Seelen ausgewählt, die besondere Gaben erhalten sollten. Diese wurden so aufgeteilt, dass es immer ein Gegenstück gab.« Seine Stimme hatte einen leichten Singsang angenommen. Als würde er diese Geschichte nicht zum ersten Mal erzählen. Dass er mit der Pergamentrolle wie ein Herold vor mir stand, verstärkte diesen Eindruck nur. »Die Gottheiten hatten nur nicht damit gerechnet, eine fünfte geeignete Seele zu finden.«

»Dich«, mutmaßte ich.

Er nickte. »Obwohl Michael schon das Feuer besaß, wurde es auch mir übertragen, damit keiner von uns durch eine einzigartige Gabe besonders hervorsticht. Vielleicht hat damals unser Konkurrenzkampf schon angefangen. Ich weiß es nicht. Da müsstest du ihn fragen. Wir wurden permanent miteinander verglichen. Himmel, sogar mir ging das auf die Nerven. Da unsere Kräfte sich so ähnlich sind, weiß Michael, wie er bei mir oder in diesem Fall bei dir unerwünschte Reaktionen hervorrufen kann. Ich vermute, dass er diesen Umstand genutzt hat, um deine Kräfte außer Kontrolle geraten zu lassen.«

Obwohl ich das insgeheim schon vermutet hatte, dauerte es einen Moment, bis ich die Worte aussprach. »Du denkst also, dass er alles geplant hat? Auch Gabriels … möglichen Tod?«

Luzifer reichte mir die Rolle und setzte sich wieder neben mich. Auf dem Blatt waren fünf Personen abgebildet. Die Zeichnung war nicht sehr detailliert, aber ich wusste trotzdem, wen sie darstellte. Die Flügelfarben machten es deutlich. Rot für Michael, Blau für Gabriel, Gelb für Raphael und die beiden mit Grün und Lila mussten wohl Uriel und mein Vater sein. Zwischen Gabriel und Uriel, sowie zwischen Michael und Raphael waren Pfeile abgebildet. Die Gegengewichte, wie Luzifer erzählt hatte. Nur von ihm ging kein Pfeil aus. Stattdessen befand sich zwischen ihm und Michael ein großes Gleichheitszeichen.

»Das ist meine Vermutung, ja«, antwortete Luzifer und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was er mit seiner Aktion bezwecken wollte. Wenn er nicht geahnt hat, dass du etwas weißt, muss er sie sehr schnell geplant haben. Vielleicht will er Gabriel so auf seine Seite ziehen und eine Kluft zwischen euch erschaffen. Oder er wollte dich treffen und entkräften.«

Was ihm beinahe gelungen wäre. »Und jetzt?«

»Jetzt sorgen wir dafür, dass er unser Leben kein weiteres Mal bedroht. Und wir beginnen damit, Elvira zu befreien.« Die Stimme meines Vaters klang bei diesen Worten fest. Zielstrebig ging er zu dem großen Tisch in der Mitte, der, wie ich jetzt erst erkannte, eine Karte der Welt zeigte. »Dafür muss ich meine Generäle informieren und einige Vorbereitungen treffen. Willst du …?«

Er wurde von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Bevor er etwas erwidern konnte, schwang sie auch schon auf und ein junger Mann betrat den Raum. Vom Aussehen her hätte ich ihn nicht älter als mich geschätzt, doch ich wusste, dass das in diesem Teil der Welt nichts bedeutete. Seine schwarzen Haare standen verstrubbelt vom Kopf ab und aus seinen braunen Augen strahlte mir Wärme entgegen. Genauso wie ich besaß er schwarze Flügel.

»Vater, du bist zurück. Und du hast Besuch mitgebracht«, begrüßte der Neuankömmling Luzifer mit einem breiten Lächeln.

Ungläubig starrte ich ihn an. Vater? Jetzt, da ich genauer hinschaute, konnte ich die Ähnlichkeit zu Luzifer erkennen. Zwar passte die Augenfarbe nicht, aber die Nasen- und Kinnpartie war eindeutig die Gleiche.

Der Teufel stand auf und die Ähnlichkeit wurde noch deutlicher. Eigentlich waren es nur der dunkle Hautton des jungen Mannes, die braunen Augen und die hellere Haarfarbe, die den Unterschied machten.

»Diego, du kommst genau richtig.« Mit einem herzlichen Lächeln umfasste Luzifer den Unterarm des jungen Mannes und die beiden nickten einander kurz zu. Dann deutete der Teufel auf mich. »Darf ich vorstellen, das ist deine Halbschwester Jasmin.«

Etwas unsicher stand ich auf, wurde aber nur Sekunden später von Diego überschwänglich in die Arme gezogen. Dabei hob er mich sogar ein bisschen hoch. »Schön, dich endlich kennenzulernen. Ich habe mir immer eine kleine Schwester gewünscht, aber Vater wollte mir den Wunsch nie erfüllen.«

Luzifer lachte leise, wurde aber schnell wieder ernst. »Weil es zu gefährlich war und eigentlich auch immer noch ist.«

»Ähm …« Was sollte ich darauf erwidern? Bis vor wenigen Minuten hatte ich gar nicht gewusst, dass ich einen Halbbruder besaß. Schön, dich kennenzulernen, klang da in meinen Ohren falsch.

»Diego ist mein Sohn aus einer Beziehung von vor vierhundert Jahren.« Mein Vater nahm mir die Entscheidung ab. »Seine Mutter und ich waren kurze Zeit zusammen, aber dann ist ihr Ehemann gestorben, ebenfalls in der Hölle gelandet und sie ist zu ihm zurückkehrt.«

»Seitdem hat er sich auf keine andere Frau mehr eingelassen, bis deine Mutter kam.« Diego blickte sich suchend um. »Ist sie auch hier? Hast du die beiden endlich mitgenommen, damit Michael sie nicht haben kann?«

Luzifers eingefrorener Gesichtsausdruck war Antwort genug.

»Oh, verdammt«, murmelte Diego und das Lächeln verschwand von seinem Gesicht.

Der Teufel nickte. »Kannst du dich um Jasmin kümmern? Ihr ein bisschen die Hölle zeigen? Dann habe ich genug Zeit, um alles zu koordinieren und unsere Generäle zusammenzurufen.«

»Jawohl, Sir.« Diego salutierte gespielt ernst, was Luzifer ein Lächeln entlockte.

Dann wandten sich beide wieder mir zu. »Du bist bei Diego in guten Händen, Jasmin«, versprach mein Vater, ehe er die Augen aufriss. »Oder würdest du lieber schlafen? Daran habe ich gar nicht gedacht. Du musst unglaublich erschöpft sein nach der ganzen Anstrengung.«

Verwirrt runzelte ich die Stirn. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich eigentlich schon viel zu lange wach war. Trotzdem war ich kein bisschen müde. »Nein, alles okay. Aber du schließt mich nicht von den Planungen aus, oder? Ich möchte dabei sein.«

»Wenn er das wollte, müsste er es auch bei mir versuchen«, antwortete Diego, bevor Luzifer es tun konnte. »Und das hat noch nie funktioniert. Also glaub mir, solange du in meiner Nähe bleibst, wirst du nichts verpassen.«

»Ihr fangt nicht ohne mich an!« So sympathisch mein Halbbruder mir jetzt schon war, die Antwort auf meine Frage konnte mir nur der Teufel geben.

»Auf keinen Fall.« Seine Stimme klang fest und in seinen Augen konnte ich nichts erkennen, was mich zweifeln ließ. Allerdings bedeutete das bei einem so alten Wesen mit großer Wahrscheinlichkeit nichts. »Wir brauchen dich. Du bist unser Schlüssel zu Michael.«

 

Diese Sätze waren wie ein Schwall kaltes Wasser, den er über mich kippte. Genau das hatte Michael von mir über Luzifer behauptet.

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